Was in Köln der Karneval ist, im Erzgebirge die Adventszeit und in Erlangen die Bergkirchweih, ist in Bayreuth die Festspielzeit. Denn jedes Jahr am 25. Juli beginnt in Bayreuth mit der Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele die fünfte Jahreszeit für die Stadt.
Sobald die Tage heißer und die Nächte kürzer werden, die Stadt turbulenter und die Blumen bunter, die Baustellen weniger und die Straßen (noch) sauberer, dann kehrt auch am Grünen Hügel — wenn auch für viele Bayreuther meist unbemerkt — langsam wieder Leben ein. Nach und nach trudeln nun Musiker, Beleuchter, Inspizienten, Sänger, Techniker, Requisiteure, Regieassistenten, und und und ein und nehmen ihre Arbeit am Festspielhaus wieder auf – ganz getreu dem Motto der diesjährigen Neuinszenierung „dich teure Halle grüß’ ich wieder“. Und während die Proben am Hügel auf Hochtouren laufen, bereitet sich auch der Rest der Stadt auf die nahende Festspielzeit vor: In den Buchhandlungen liegen die Librettos zu Wagners Opern zum Verkauf, die Touristen wandeln auf dem Walk of Wagner hin zur Villa Wahnfried, die Restaurants benennen ihre Gerichte nach Wagners Opernschatz und in der lokalen Kulturszene findet ein thematisches, teils satirisches Alternativprogramm statt. Somit ist selbst für den Unaufmerksamsten klar: In diesen Tagen dreht sich alles um Richard Wagner und seine Festspiele.
Mehr als dieses Rahmenprogramm bekommen die meisten Bayreuther von den Festspielen aber tatsächlich gar nicht mit und manche von ihnen sind vielleicht auch einfach wieder froh, wenn all die Festspielbesucher abgereist sind und alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Es gibt aber auch ein paar Bayreuther, die die Festspielzeit gar nicht abwarten können und denen das Herz aufgeht, wenn endlich wieder der Klang der Fanfaren wie ein Schleier über dem Grünen Hügel schwebt. Denn sie sind bei den Festspielen mittendrin und dürfen sich als Statisten die Bühne zusammen mit Klaus Florian Vogt, Camilla Nylund, Georg Zeppenfeld und Co. teilen. Ob als watschelnde Ratten, US Army Soldaten oder als rauchender Chauffeur der Rheintöchter flitzen die stummen Statisten über die Bühne und hauchen den Inszenierungen noch den letzten Funken Leben ein. Dabei sind alle mit Herzblut dabei und das teilweise schon seit mehreren Jahrzehnten. Auch ich bin mittlerweile seit zehn Jahren ein Teil dieser Gruppe und verbringe im Festspielhaus somit die besten und vor allem die wohlklingendsten Sommer. Und bei all der Begeisterung der Statisten für die Festspiele und Richard Wagner ist mit Sicherheit auch ein klitzekleines bisschen Wahn dabei, aber was soll ich sagen? Es macht einfach Spaß auf der Bühne zu stehen, der grandiosen Musik zu lauschen und im Kopf die Texte mitzusingen. (Zuhause singe ich sie dann laut — sehr zum Leidwesen meiner Familie). Zu Richard Wagner gehört eben ein kleines bisschen Wahn, so wie Tristan zu Isolde, die Wunde zu Amfortas und die Rheintöchter zum Rheingold gehören.
Und wenn dann am 28. August der letzte Vorhang gefallen ist, alle Mitwirkende abgereist sind und Bayreuth wieder wie leer gefegt ist, geht die fünfte Jahreszeit zu Ende und das Festspielhaus verfällt bis zum kommenden Juli wieder in seinen Dornröschenschlaf. Während ich mich nun drauf freuen kann, in der festspielfreien Zeit mir einen Teil des Wagner-Wahns bewahren zu können und wieder Gästeführungen durch das Haus geben zu dürfen, hallt von den Wänden des Zuschauerraums noch das Echo der vergangenen Saison.